Anthropologische Epistemologie. Zwischen Philosophie und Lebenswissenschaften im 20. Jahrhundert
Das Projekt von Julia Gruevska untersucht aus einer integrativen philosophie- und wissenschaftshistorischen Perspektive die Genese und Etablierung der philosophischen Anthropologie als eines epistemologischen Konzepts. Durch ihre vermittelnde Dynamik zwischen Naturalismus und Idealismus konnte die Philosophische Anthropologie nach dem 1. Weltkrieg einflussreiche Ansätze zur Definition, aber vor allem zur wissenschaftlichen Untersuchung des „Menschen“ beitragen. Ausgangspunkt der Analyse ist die 1928 formulierte Feststellung des Philosophen Max Schelers, „daß zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart“. Damit spielte Scheler nicht nur auf die heterogenen philosophischen und lebenswissenschaftlichen Debatten der Zwischenkriegszeit an, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts etablierten, sondern historisiert zugleich das Bedürfnis philosophisch-anthropologischen Denkens als Symptom dieser Zeit.
Während Philosophische Anthropologie heutzutage gemeinhin als die philosophisch-disziplinäre Untersuchung und Herausstellung des Wesens des Menschen verstanden wird, hatte eine Philosophische Anthropologie in ihrem Entstehungskontext grundlegend reflexive und über Disziplingrenzen hinausreichende Fragen und Aufgaben: (wie) können Prozesse in der Natur und in Lebenserscheinungen als Sinnzusammenhänge verstanden und experimentell untersucht werden? Welche Rolle spielt dabei der Mensch, sein Wissen um sich und die Außenwelt? Sollte die philosophische Annahme einer Konstitution des Menschen als „psychophysische Indifferenz“ (Scheler) zu einer Relativierung der Grenzen naturwissenschaftlicher Disziplinen und den Geisteswissenschaften führen? Konnten hermeneutische und phänomenologische Methoden bei anthropologischen Problemkontexten wie Leben und Umwelt, Subjekt-Objekt-Relationen sowie Wahrnehmungs- und Erkenntnisfragen in sinnesphysiologischen und verhaltenspsychologischen Experimenten eine Mehrung von Wissen fördern, die nicht nur für die Philosophie sondern auch für die exakten Wissenschaften von Relevanz sind?
Am Beispiel der „anthropologischen Physiologie“ Frederik Buytendijks und seiner theoretischen wie praktischen Zusammenarbeit mit dem Philosophen Helmuth Plessner sollen die Forschungs- und Reflexionsdynamiken in den jeweiligen wissenschaftlichen Kulturen und die Wissenszirkulation zwischen Philosophie, Physiologie und Psychologie herausgearbeitet werden. Durch diese Herangehensweise will das Projekt die immer wieder neu zu verhandelnde Aktualität der Philosophischen Anthropologie als eine anthropologische Epistemologie, die sich methodisch als „forschende Kritik und kritische Forschung“ versteht, in der Philosophie und den Lebenswissenschaften beleuchten.
Julia Gruevska geht diesen transdisziplinären Aushandlungsprozessen systematisch und historisch nach. Dabei untersucht sie, wie anthropologisches Denken als philosophische Reflexion epistemischer Tugenden auf der einen Seite einem reduktionistischen Naturalismus in philosophischen Ansätzen und in den Naturwissenschaften entgegenwirken und auf der anderen Seite naturphilosophischen Theorien experimentelle Beweiskraft verleihen konnte.