Porträt Theodor Schwann

Das unveröffentlichte Werk Theodor Schwanns

Studien zum Verhältnis von Biologie, Religion und Politik im 19. Jahrhundert
Porträt Theodor Schwann
Foto: Fonds/Nachlass Schwann (référence 70) - ULiège Library, Université de Liège

Das Projekt

Notizbuch von Theodor Schwann
Notizbuch von Theodor Schwann
Foto: Privatarchiv Hannes Böhringer

Das 2017-2020 von der DFG geförderte und an der Technischen Universität Braunschweig angesiedelte Projekt wird seit Dezember 2020 am Ernst-Haeckel-Haus der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter der Leitung von Dr. Florence Vienne weitergeführt.

Im Herbst 2021 wurde ein wesentlicher Teil des Schwann-Nachlasses, der sich zuvor im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité befand, der Friedrich-Schiller-Universität als Leihgabe übergeben.

Ziel des Projekts ist es, Schwanns unveröffentlichtes Werk bekannt und der Forschung zugänglich zu machen. Ein Verzeichnis seiner hinterlassenen Manuskripte soll demnächst publiziert und digital verfügbar gemacht werden. Ferner sollen digitalisierte Schriften über die Zugangsplattform für multimediale Angebote der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (URMEL) online gestellt werden. Schließlich werden Schlüsselquellen transkribiert und editiert. Die Erschließung und Auswertung der unveröffentlichten Schriften Schwanns wird nicht nur eine Gesamtbetrachtung seines Lebens, Forschens und Denkens ermöglichen. Parallel zu den Forschungen zu Matthias J. Schleiden (1804-1881) und Ernst Haeckel (1834-1919) soll das Projekt auch neue wissenschaftshistorische Perspektiven auf das Wechselverhältnis von Biologie, Religion und Politik im 19. Jahrhundert eröffnen.

Transkription und Edition von Schlüsselmanuskripten

Theodor Schwann, „V Kapitel Theorie der Schöpfung“, undatiert, S.1
Theodor Schwann, „V Kapitel Theorie der Schöpfung“, undatiert, S.1
Foto: Privatarchiv Hannes Böhringer

Nur wenige Manuskripte Schwanns liegen in transkribierter und publizierter Form vor. Erschienen sind bislang Briefe (von Schwann und an ihm adressiert), Auszüge aus seinem persönlichen Tagebuch und aus einem seiner zahlreichen Versuchstagebücher – sein Versuchstagebuch der Jahre 1834-1837. Nahezu unbemerkt geblieben sind undatierte Entwürfe für einen zweiten Band seiner 1839 Mikroskopischen Beobachtungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen. Sie enthüllen den unvollendeten Charakter und die theologische Dimension seiner Zelltheorie.

Eine weitere Schrift zeigt, dass Schwann seine ‚zelltheologische‘ Theorie in den 1860er-1870er Jahren erneuert hat. Eine Edition dieses von Dr. Jakob Mittelsdorf transkribierten Quellenkorpus ist in Vorbereitung. Diese erste Publikation zu Schwanns unveröffentlichte Schriften bietet einen neuen wissenschaftshistorischen Zugang zu Genese und Bedeutung der schwannschen Zelltheorie.

 

Theopolitische Dimensionen der Zellbiologie von Schwann bis Haeckel

Theodor Schwann, „Ideen naturwissenschaftlichen Inhalts“, Band 1 (1838-1866)
Theodor Schwann, „Ideen naturwissenschaftlichen Inhalts“, Band 1 (1838-1866)
Foto: Privatarchiv Hannes Böhringer

Zu unserem Bild der Moderne gehört die Vorstellung, dass die Zell- und Evolutionstheorien des 19. Jahrhunderts einen entscheidenden Beitrag zur Durchsetzung eines säkularen Weltbildes leisteten. Während sich die Wissenschaftsgeschichte aber seit langem mit der Bedeutung naturphilosophischer und naturtheologischer Deutungsmuster bei Charles Darwin oder Ernst Haeckel befasst, bleibt die Rolle der Religion in der Geschichte der Zelltheorie weitgehend unbeachtet. Die deutschen Begründer der Zelltheorie – Matthias J. Schleiden und Theodor Schwann – werden einseitig als Wegbereiter einer Biologie gesehen, die mit den bis dahin herrschenden vitalistischen und metaphysischen Annahmen einen endgültigen Bruch vollzogen. Dieses Fortschrittsnarrativ führte zu einer selektiven Betrachtung ihrer Werke.

In Schwanns Fall ist es der Großteil seines unveröffentlichten Werkes nicht beachtet oder als Ausdruck eines Mystizismus gedeutet worden, dem Schwann nach der Formulierung seiner Zelltheorie angeblich verfallen sei. Demgegenüber liegt diesem Projekt die Annahme zugrunde, dass sich im Leben und Werk des Begründers der Zelltheorie – von seiner Jugend bis zu seinem Tod - keine Trennlinie zwischen Wissenschaft und Religion ziehen lässt.

In wissenschaftshistorischer Hinsicht hat dieses Postulat eine Reihe von Implikationen. Geht die klassische Historiographie davon aus, dass die Emanzipation von der Metaphysik eine Voraussetzung für die Formulierung der Zelltheorie darstellte, wird hier nach der epistemologischen Bedeutung metaphysischer und theologischer Konzepte in der Entstehung und Weiterentwicklung der Zelltheorie im 19. Jahrhundert gefragt. Darüber hinaus wird Schwanns publizierte Zelltheorie von 1838, ihre unbekannt gebliebene Fortsetzung und Weiterentwicklung der 1840er-1870er Jahre, als Ausdruck tiefgreifender wissenschaftlicher und kultureller Transformationen betrachtet.

Schwanns „Zelltheologie“ wird insbesondere als eine Antwort auf die Säkularisierungsbestrebungen und revolutionären Umbrüche des 19. Jahrhunderts gelesen, die nicht einzigartig war. Auch für den Botaniker Schleiden und den Zoologen Haeckel war die Zelltheorie ein wichtiger Ausgangspunkt für neue Auseinandersetzungen zum Verhältnis von Körper/Materie und Geist, Religion und Naturwissenschaft, Biologie und Politik.

Am Beispiel der drei Biologen untersucht das Projekt Differenzen und Parallelen zwischen ihren jeweiligen Gegenentwürfen zu materialistischen Weltbildern. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Entstehung neuer Formen der Politisierung der Zellbiologie sowie der Naturalisierung des Menschen und der Gesellschaft in der post-revolutionären Ära von 1848 geschenkt. Während der Katholik Schwann ab 1839 in Belgien und in einem französischsprachigen Kontext seine Forschungen fortsetzte, war für die vom Protestantismus geprägten Schleiden und Haeckel Jena die Hauptwirkungsstätte. Damit lassen sich nicht zuletzt auch Verflechtungen von Biologie, Religion und Politik im 19. Jahrhundert aus transnationaler Perspektive erforschen.